Ein für kurze Zeit offenes Tor an der ungarisch-österreichischen Grenze hat vor 35 Jahren eine Massenflucht von DDR-Bürgern in den Westen ausgelöst. Die Organisatoren des «Paneuropäischen Picknick» an der Grenze hatten das nicht geplant – andere haben nachgeholfen. Das spielt kaum eine Rolle bei den offiziellen Erinnerungen an das Ereignis. Weggelassen wird, was nicht passt – obwohl es nachlesbar ist.
Mit der größten Massenflucht von DDR-Bürgern seit dem Mauerbau 1961 begann am 19. August 1989 die «Abstimmung mit den Füßen». Sie setzte eine Bewegung von Hunderttausenden aus der DDR in Richtung BRD mit in Gang, die verschiedene Fluchtmöglichkeiten nutzten.
Das trug zur überraschenden DDR-Grenzöffnung am 9. November 1989, dem sogenannten Mauerfall, bei. Was vor 35 Jahren geschah, wird heute politisch verklärt, verfälscht und genutzt, um zu rechtfertigen, was seitdem passierte und was heute ist.
Ob das die Absicht jener war, die vor 30 Jahren zum «Paneuropäischen Picknick» an der ungarisch-österreichischen Grenze nahe Sopron einluden, ist offen. Bekannt ist, dass die Initiatoren ein Zeichen gegen die Teilung Europas im Kalten Krieg setzen und Menschen über Grenzen hinweg zusammenbringen wollten.
Klar ist, dass bei der Massenflucht nachgeholfen wurde. Unbekannt bleibt, wer konkret dafür gesorgt hat, dass es zum Grenzdurchbruch durch DDR-Bürger kam, der selbst die ungarischen Grenzer überrascht zu haben scheint.
Verstellter Blick
Das Ereignis wird seit langem verklärt und verfälscht. Ein Beispiel dafür lieferten 2019 die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel und der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán am 19. August an historischem Ort, in Sopron. Dort erklärte Orbán auf einer gemeinsamen Pressekonferenz, das Picknick sei «der Ausgangspunkt der Ereignisse» gewesen, «die zum Fall der Mauer führten».
Zu diesem sei es «wesentlicher Baustein» gewesen, ergänzte Merkel. Zuvor hatte die Kanzlerin bei einem Festakt in der Kirche von Sopron gesagt, das «Paneuropäische Picknick» sei bis heute für sie eine «Kraftquelle». Die offiziellen Erklärungen heute klingen nicht anders, nur das Orbán in der deutschen Politik nicht mehr so beliebt ist und Bundeskanzler Olaf Scholz diesmal nicht nach Ungarn fuhr.
Neben der herrschenden Politik verklären und verfälschen das Ereignis auch jene, die aus kritischer Perspektive auf die damaligen Vorgänge schauen. So behauptete der Berliner Journalist Peter Nowak im Online-Magazin Telepolis, das Picknick an der Grenze sei von der «Paneuropa-Union» angestoßen und organisiert worden.
Das sei eine «Gruppe im Graubereich zwischen den Unionsparteien und der Ultrarechten», mit Otto von Habsburg als bekanntestem Mitglied. Der war zwar Schirmherr der Veranstaltung vor 30 Jahren, neben dem ungarischen Staatsminister Imre Pozsgay. Und immerhin behauptete selbst die «Paneuropa-Union» lange Zeit, die Aktion an der ungarisch-österreichischen Grenze 1989 veranstaltet zu haben.
Eine Ausstellung im ungarischen Nationalmuseum in Budapest erinnerte 2019 an die Ereignisse von 1989 (Foto: Tilo Gräser)
Klarer Widerspruch
Aber historischer Fakt ist: «Ein Paneuropa-Picknick gab es nicht!» – also eines dieser Organisation gleichen Namens. Das ist nachzulesen in einem Beitrag von Laszló Nagy für den 2019 erschienenen Sammelband «Der erste Stein aus der Berliner Mauer – Das paneuropäische Picknick 1989».
Nagy gehört zu jenen Zeitzeugen in Ungarn, die das Picknick damals tatsächlich organisierten und dabei waren. «Ich wehre mich gegen eine Geschichtsverfälschung», macht er in seinem Beitrag klar. Darin beschreibt er unter anderem, dass Otto von Habsburg zwar eingeladen wurde, Schirmherr des Picknicks zu sein. Dessen Organisation habe aber nichts weiter damit zu tun gehabt, während sie in den 1990er Jahren begonnen habe, das Gegenteil zu behaupten.
Der einstige ungarische Oppositionelle Nagy war Mitglied des Ungarischen Demokratischen Forums (MDF) in Debrecen gewesen. Dort sei im Juni 1989 die Idee zum Picknick entstanden, nach einem Vortrag von Habsburg, schildert er in seinem Beitrag. Auslöser sei gewesen, dass Ungarn bereits seit Mai des Jahres begonnen hatte, die Grenzbefestigungen zu Österreich, den «Eisernen Vorhang», schrittweise abzubauen.
Laut Nagy hatte Ferenc Mészáros, ebenfalls vom MDF, zuerst die Idee, an der Grenze ein Treffen mit österreichischen Freunden zu organisieren, «um gemeinsam ein Lagerfeuer zu machen und Speck zu braten. Die Hälfte der Menschen sollte in Ungarn sitzen, die andere in Österreich.» Das ursprüngliche Anliegen sei gewesen:
«Gemeinsam plaudern, essen und trinken, direkt an der Grenze. Wir wollten der Weltpresse zeigen, dass das an der ungarisch-österreichischen Grenze möglich ist.»
In einem Text für das Potsdamer Bulletin für Zeithistorische Studien hatte Nagy 2001 die Vorgeschichte des Picknicks beschrieben, wie es organisiert wurde und was folgte. Im Buch ist nachzulesen: «Geplant war das Picknick als Freundschaftstreffen mit Österreichern.»
Nicht zufällige Teilnehmer
Es sei aber eigentlich darum gegangen, «zu zeigen, dass es in Europa zwei Länder, zwei Völker gibt, die bereits friedlich ohne Grenze zusammenkommen können. Und wir hatten das ganze Ereignis gegen die Berliner Mauer gerichtet».
Die Teilnehmenden sollten sich unter dem Slogan «Bau ab und nimm mit» zwar ein Stück Draht von «Eisernen Vorhang» mitnehmen können. Auch habe der zweite Slogan «Statt Dorfvernichtung Mauervernichtung!» gelautet, gerichtet vor allem Richtung Rumänien. Aber es habe keine Einladung zur Flucht durch das Grenztor bei Sopron gegeben, so Nagy.
2001 hatte er berichtet, das Tor sollte nur zeitweilig geöffnet werden – damit die österreichischen Teilnehmenden auf die ungarische Seite kommen können und umgekehrt. Aus Österreich seien aber so viele Menschen gekommen, dass er von «einer Völkerwanderung ähnlichen Bewegung» schrieb, die die Ungarn gar nicht durchkommen ließ.
Es habe ein nicht beherrschbares Chaos gegeben, «da wirklich niemand mit einem derartigen Interesse hatte rechnen können». Die Organisatoren in Debrecen und Sopron hätten vorher rund 4.500 Flugblätter drucken lassen, um zum Picknick einzuladen, 3.000 in Ungarisch und 1.500 auf Deutsch, so der Zeitzeuge im Buch.
Die ungarischen Einladungen seien ausschließlich in Sopron verteilt worden, die deutschen eigentlich nur im österreichischen Burgenland. Laut seinem Text von 2001 hielten sich aber in den Tagen kurz vor dem Picknick bereits zahlreiche DDR-Bürger in der Stadt auf, «die nicht zufällig nach Sopron gereist waren». Davon hätten die Organisatoren aber «herzlich wenig» gewusst.
Überrumpelte Grenzer
Nagy hat laut seinem Bericht im Buch später erfahren, dass die deutsche Version tausendfach kopiert worden und in Budapest sowie im Gebiet um den See Balaton verteilt worden war. Letzterer war ein beliebtes Urlaubsziel von DDR-Bürgern. Einige von ihnen, die vor 30 Jahren bei Sopron die Grenze überschritten, hätten ihm erzählt, dass sie die Flugblätter für das Picknick von Unbekannten bekommen hätten.
Am Ende überrumpelten laut Nagy mehr als 600 von ihnen die fünf ungarischen Grenzsoldaten um Oberstleutnant Árpád Bella, die irgendwie im Chaos versuchten, den Menschenfluss zu kontrollieren – mit dem Rücken zur ungarischen Seite. «Die Flüchtlinge strömten, die ungarischen Grenzsoldaten von hinten umgehend – manchmal wurden sie fast umgestoßen –, über die Grenze», so Nagy 2001.
Der Bürgermeister des österreichischen Ortes St. Margarethen, Andreas Waha, habe sofort Unterkünfte für die Flüchtlinge organisiert. Abgestimmt mit der BRD-Botschaft in Wien habe Waha Busse für den Transport der DDR-Bürger in die Bundesrepublik organisiert. Und: Die Flüchtlinge seien «zum Teil schon mit einem gültigen Reisepass der BRD (!) nach Ungarn eingereist».
In dem Sammelband aus dem Jahr 2019 ist nachzulesen, was ein Mitarbeiter der BRD-Botschaft in Budapest Nagy gesagt habe: Danach hat der Botschaftschauffeur im August 1989 täglich ganze Säcke «mit Papier», also mit Kopien des deutschen Flugblatts für das Picknick, an den Balaton gebracht und an bestimmten Adressen deponiert.
Wer dahinter steckte, das sei «bis heute ein diplomatisches Geheimnis». Der einstige ungarische Oppositionelle, der heute bei der Stiftung arbeitet, die an das Picknick erinnert, hält es aber für «richtig, so vorzugehen».
Angehäufte Zufälle
Damit wird belegt, dass die Massenflucht von mehr als 600 DDR-Bürgern an der Grenze bei Sopron zumindest von interessierter Seite angestoßen wurde. Nach der vom BRD-Fernsehen übertragenen Aktion versuchten immer mehr DDR-Bürger, über die anscheinend offene ungarisch-österreichische Grenze in die BRD zu gelangen.
Ein «Trabant» 2019 vor dem Nationalmuseum in Budapest im Zusammenhang mit der Ausstellung (Foto: Tilo Gräser)
An den Straßen im Grenzgebiet hinterließen sie Tausende ihrer Autos, vor allem «Trabant» und «Wartburg». Daraufhin ließ die ungarische Regierung Flüchtlingslager errichten – und öffnete am 11. September endgültig für DDR-Bürger die Grenze in den Westen.
«Die ganze Geschichte rund um das Paneuropäische Picknick bestand aus Zufällen», so Nagy.
«Wenn nur ein Zufall weggefallen wäre, hätte es kein Picknick oder keinen Exodus an DDR-Flüchtlingen gegeben. Wenn die Flüchtlinge nicht gekommen wären, wäre das Picknick zwar die größte Gartenparty der Welt mit ca. 20.000 Besuchern gewesen, aber man hätte wohl schon bald nicht mehr davon gesprochen.»
Der Zeitzeuge schreibt in seinem Beitrag, dass der damalige ungarische Ministerpräsident Miklós Németh über seinen Staatsminister Pozsgay von dem Picknick wusste. Zu dessen Programm gehörte laut Nagy, dass die Grenze dabei für Stunden geöffnet werden sollte.
Dem habe Németh zugestimmt – als «passende Gelegenheit, um abzutesten, wie Ostberlin, Bukarest und besonders Moskau reagieren würden». KPdSU-Generalsekretär Michail Gorbatschow habe keine Einwände erhoben, auch nicht gegen die spätere endgültige Grenzöffnung, wie der Historiker Mark Kramer in dem Buch berichtet.
Ideologische Fehlstellen
Der Sammelband gibt einen guten Überblick über das Ereignis vor 30 Jahren, seinen Kontext und Hintergrund ebenso wie über die nachfolgenden Ereignisse bis zum 9. November 1989. Ebenfalls interessant ist, was über die Rolle Österreichs bei dem Geschehen zu erfahren ist. «Der erste Stein aus der Mauer» habe einen Dammbruch ausgelöst, «der schließlich die kommunistischen Regime binnen weniger Monate zum Einsturz brachte», so die beiden österreichischen Herausgeber und Historiker Stefan Karner und Philipp Lesniak.
Manche der ideologischen Einschätzungen der Herausgeber und der Autoren sind nicht überraschend und bis heute diskussionswürdig. Zu den Fakten gehört, dass damals viele DDR-Bürger das eigene Land satthatten und verlassen wollten.
Es fehlt aber der Hinweis darauf, warum es die Grenze zwischen Ost und West, einschließlich der Berliner Mauer, überhaupt gab. Es wird dagegen auch hier der Eindruck vermittelt, die Teilung Europas sei nur das Werk der «bösen Kommunisten» gewesen. Kein Wort von den Ursachen wie dem Krieg, mit dem die deutschen Faschisten zuvor Europa überzogen.
Stattdessen erklärte Ungarns Ministerpräsident Orbán am 19. August 2019, der Osten Europas sei «nach dem Zweiten Weltkrieg der sowjetischen Welt vorgeworfen worden». Gleichzeitig sei der Glaube nie untergegangen, dass «es ein Europa gibt, das von den freiheitsliebenden Völkern Europas eines Tages wiedervereint wird». Seinen Vorgänger Németh, der 1988/89 die ersten Schritte ging, hatte er übrigens vor fünf Jahren nicht zur Jubiläumsfeier nach Sopron eingeladen.
In der offiziellen Politrhetorik werden die Ursachen und die Folgen der damaligen Ereignisse verfälscht. Das zeigt ein Blick auf die Lage in Ost- und Mitteleuropa, der eine «traurige Bilanz» ergibt. Eine solche zog der österreichische Kolumnist Karl-Markus Gauss vor fünf Jahren in der Süddeutschen Zeitung.
Bittere Bilanz
«Fast ausnahmslos sind die mittel- und osteuropäischen Staaten von einer desaströsen Migration betroffen», so Gauss, der klarstellte:
«Nein, nicht von jener Migration, die Millionen Flüchtlinge aus dem Nahen und dem Mittleren Osten nach Europa hat aufbrechen lassen. Bulgarien, Rumänien, Ungarn, Polen, die Slowakei, Kroatien, die baltischen Staaten – sie alle haben vielmehr Hunderttausende meist junge Bürger an die reichen Länder der Union verloren.»
Die Personenfreizügigkeit sei ein hohes Gut, schreibt der Autor, «aber sie hat dem Westen genützt, dem Osten geschadet». Dort gebe es «keine einzige soziale Schicht, der es einen Vorteil gebracht hätte, dass so viele arbeitsfähige und aufstiegshungrige Menschen dem eigenen Land den Rücken kehrten».
Profitiert hätten von dem Massenexodus einzig jene «populistischen Haudegen», die auf alle sozialen und ökonomischen Fragen stets nur eine nationalistische Antwort parat hätten, stellte Gauss fest. Das lässt sich auch für das Gebiet der untergegangenen DDR sagen.
Zu den Profiteuren gehört Ungarns Premier Orbán, der 2019 das Jubiläum in Sopron nutzte, um sich gemeinsam mit der damaligen Bundeskanzlerin Merkel zu zeigen – einer Ostdeutschen, die die Gewinner der historischen Prozesse auf der Seite des Westens vertritt. Beide zählen gewiss nicht zu jenen, die den Wunsch des Zeitzeugen Nagy von 2001 erfüllen, «die wahren Antriebsfedern, die Geschichte hinter den Kulissen» der Geschehnisse vor 30 Jahren zu kennen.
Literaturtipp:
Stefan Karner, Philipp Lesiak (Hg.): «Der erste Stein aus der Berliner Mauer. Das paneuropäische Picknick 1989»
Verlag Leykam, Graz-Wien 2019. 276 Seiten. ISBN 978-3-7011-0414-7. 24,90 Euro
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