Aktienkäufer, die aufs falsche Pferd beziehungsweise Papier gesetzt haben, hören mitunter den netten Trost: «Ihr Geld ist nicht weg. Es gehört jetzt nur jemand anderem.»
Ganz ähnlich verhält es sich in Zeiten von «Künstlicher Intelligenz» mit den Sehnsüchten und dem Glauben vieler Menschen: Beides ist nicht weg, mögen sich die Kirchen noch so leeren; die Hoffnungen gehen nur in eine andere Richtung.
Eva Rex ist Historikerin und Publizistin von kulturgeschichtlichen und philosophischen Themen. Für die neue Ausgabe der Zeitschrift Crisis spürt sie diesem Phänomen in einem weittragenden Artikel nach. Er ist überschrieben mit «Die Abschaffung der Materie». Was bliebe dann übrig? Richtig: Geist pur, der alte Traum der Gnostiker.
Am Anfang war die Quantenphysik. Sie beendete vollends die Lehre vom A-tom als etwas Un-Teilbarem (wörtlich: «Nicht-Geschnittenem»). Im Zentrum der neuen Theorien steht hingegen das Zauberwort Information. Sie sei in allem enthalten, was wir landläufig als Materie wahrnähmen.
Parallel dazu bricht die Nano-Technologie in immer winzigere Mikrokosmen auf. Sie ist dabei, «die Miniaturisierung zu maximieren und die Minimalisierung in astronomische Dimensionen zu führen» − ein «Trend vom Grobstofflichen zum Feinstofflichen». Nach den Lehren des Transhumanismus sollen der vorhandenen «Materie» auf diesem Weg neue, eigene Informationen hingefügt werden.
Der Trend zum Immateriellen spiegelt sich auch in der Wirtschaft wider. Daten sammeln und auswerten wird wichtiger als Waren herstellen. Das Schlagwort vom Dataismus macht die Runde. Wer heute am Leben Anteil haben will, muss mit den Daten zusammen fließen, am besten gleich zusammenfließen.
Das «Zufallsprodukt Mensch» wartet seiner Veredelung «zu jener berühmt-berüchtigen ‚Superintelligenz‘ (…), die in ihrer unausdenkbaren Potenz alles bis dahin Gekannte in den Schatten stellen wird». Das Pathos ist also gewaltig. Wollte vormals noch ein primitiv biologistischer Lebensborn die eigene «Rasse» immer höher züchten, so tritt an dessen Stelle nun das Streben nach übermenschlicher Intelligenz.
Diese «Entmaterialisierung» bedeutet nolens volens auch, dass alle nichtrationalen Aspekte des Menschseins zurückgedrängt, ja negiert werden. Einfach gesagt: Selberdenken stört, sich einfühlen bringt artfremden Sand ins Getriebe des Geistes.
Die Autorin erkennt darin sogar «die Voraussetzung für die transhumanistische Hybris: Der Mensch müsse die Materie nicht nur beherrschen, sondern sie vollständig unterwerfen, um sich radikal von ihr zu befreien». Sich von der Natur entfernen, sie hinter sich lassen, ist Fortschritt.
Der «ortlose Raum des eigenen Selbst» ist das neue Zuhause des dergestalt gereinigten Menschen − verkauft als dessen «Selbstermächtigung». Jedes Subjekt ist nun sein eigener Schöpfer, der «ins Grenzenlos-Unendliche, aber auch in die Dunkelkammer des eigenen Narzissmus» vorstößt. Jede empfundene «Gefühlswahrheit» zählt mehr als schnöde Grenzen der − letztlich ja inexistenten− materiellen Welt.
In einer «Flucht aus der Welt in die Selbstreflexion» nach Hannah Arendt wird die Welt zerlegt und nach eigenem Willen wieder zusammengesetzt. Die Herrschaft des «reinen Geistes» ist ausgerufen, ein «elektronisches Vollkommenheitsparadies, in dem alle Dualitäten (Zeit/Raum, Körper/Geist, Mann/Frau, Natur/Technik) im Sinne eines (…) Monismus aufgehoben sind».
Die Entgrenzungen des Cyberspace haben ihre Entsprechung gefunden im technisch getunten Geschöpf seiner selbst, und der wissende und gütige Gott weicht einer allesdurchdringenden Überwachung und nur künstlichen Intelligenz, schreibt Eva Rex.
Der Rausch des Geistes führt in den Kater der Selbstauflösung wie umgekehrt die Sehnsucht nach Entgrenzung die Phantasien beflügelt und jede natürliche Bindung als unnatürliches Hindernis erscheinen lässt.
«Ihr werdet sein wie Gott» verheißen die Propheten der neuen Zeit und entmaterialisieren den Menschen, ironischerweise über technische Hilfsmittel. Erstmals taucht dieser programmatische Spruch in anderem Zusammenhang auf: als eine Einflüsterung Satans nach 1. Mose 3, Vers 5.
Diese Lehren «stehen zwar im Ruf von Weisheit, freigewähltem Kult (…) und leiblicher Kasteiung, doch sie haben keinen Wert» (Kolosserbrief 2, Vers 23, nach Fridolin Stier); sie zerstören die Einheit des Menschen aus Leib, Seele und Geist.
Zu diesem zutiefst Menschlichen gehört aber auch die Unzufriedenheit mit sich selbst, das Verlangen, Hinderliches abzustoßen und einen Weg darüber hinaus zu finden, als es da heißt:
«Legt von euch ab den alten Menschen mit seinem früheren Wandel, der sich durch trügerische Begierden zugrunde richtet. Erneuert euch aber in eurem Geist und Sinn und zieht den neuen Menschen an, der nach Gott geschaffen ist in wahrer Gerechtigkeit und Heiligkeit.»
Epheser 4,22-24
Das geht nur im Gefolge des Einen, der als dieser neue Mensch sogar die Grenzen des Todes schon hinter sich gelassen hat.
«Folglich ist einer, wenn er in Eins mit dem Messias ist, neue Schöpfung: Das Alte ist vergangen. Da! Neues ist geworden.» 1. Korinther 5,17 (nach Fridolin Stier).
Mit diesem Messias Jesus Christus in Resonanz gehen ist das Ereignis von Geist pur, von Heiligem Geist.
************
Wort zum Sonntag vom 1. September 2024: Befreit zum Realismus
Lothar Mack war als Gemeindepfarrer und bei verschiedenen Hilfswerken und Redaktionen tätig. Sein kritischer Blick auf Kirche und Zeitgeschehen hat ihn in die Selbständigkeit geführt. Er sammelt und ermutigt Gleichgesinnte über Artikel und Begegnungen und ruft in Gottesdiensten und an Kundgebungen zu eigenständigem gläubigem Denken auf. Sein Telegram-Kanal lautet StimmeundWort.
Kommentare