Am Rande des Filmfestivals von Locarno versammelt der auch in Deutschland bekannte und in Berlin lebende Ringier-Journalist Frank A. Meyer jährlich in der Tessiner Metropole zahlreiche politische und intellektuelle Persönlichkeiten, überwiegend aus Deutschland, zu einer Diskussion über die Rolle des Westens in der Welt. In diesem Rahmen wurde dem polnischen Außenminister Radosław Sikorski und seiner Ehefrau, der amerikanischen Publizistin und Historkerin Anne Applebaum der «Europäische Preis für Politische Kultur» verliehen – in Anwesenheit der Schweizer Bundespräsidentin Viola Amherd.
Die Laudatio hielt der deutsche Finanzminister Christian Lindner (FDP). Die Veranstaltung bot eine Bühne für leidenschaftliche Reden zur Verteidigung der westlichen Werte und der Demokratie, die als bedroht angesehen werden.
Auf der Westschweizer Plattform Bon pour la tête veröffentlichte der prominente Journalist Jacques Pilet unter dem charakteristischen Titel «L’Occident, bras armé de la démocratie?» (Der Westen als bewaffneter Arm der Demokratie?) eine kritische Betrachtung zu diesem Anlass.
Die Diskussionen in Locarno konzentrierten sich, so Pilet, auf die Rolle des Westens, insbesondere der USA und Europas, als Verkörperung der Demokratie in einer Welt, die oft als weniger oder gar nicht demokratisch wahrgenommen wird. Dabei sei beim Anlass betont worden, dass es nun an der Zeit sei, die Werte der Freiheit politisch und militärisch zu verteidigen. Doch in diesem fast einstimmigen Lobgesang auf den Westen blieben wichtige Fragen unbeachtet: Die komplexe und oft widersprüchliche Realität der Demokratie, sowohl im Westen als auch anderswo, werde weitgehend ausgeblendet. Ebenso werde bewusst vermieden, die fragwürdigen militärischen Interventionen der USA in den letzten Jahrzehnten und deren Folgen auch nur zu thematisieren.
Ein weiteres Tabuthema sei die unterschiedliche Behandlung von Ländern wie Russland, das für seine militärische Aggression gegen die Ukraine verurteilt werde, und Israel, das weiterhin palästinensische Gebiete gewaltsam besetze. Diese Doppelmoral stelle die Glaubwürdigkeit des Westens als «bewaffneter Arm der Demokratie» infrage.
Auch die zunehmende Annäherung der Schweiz an die NATO, die von Bundespräsidentin Amherd verteidigt wird, stieß bei Pilet auf Kritik. Amherd betonte bei dem Event, dass die Schweiz angesichts neuer Bedrohungen nicht in der Lage sei, alleine zu bestehen, und dass eine militärische Zusammenarbeit mit der NATO und der EU notwendig sei. Diese Haltung steht jedoch im Widerspruch zu der traditionellen schweizerischen Neutralität, die von vielen als Fundament der Schweizer Außenpolitik betrachtet wird.
In diesem Kontext erscheinen gemäß Pilet die Warnungen von Intellektuellen wie Adolf Muschg und Edgar Morin, die für Dialog und Friedenssicherung plädieren, besonders relevant. Sie mahnen, dass die erste und wichtigste Form des Widerstands im Geiste liegt, und fordern dazu auf, der Versuchung zu widerstehen, in vereinfachte, manichäische Denkmuster, bei dem das göttliche Lichtreich und das Reich der Finsternis in absoluter Gegnerschaft gegenüber stehen, zu verfallen.
Angesichts dieser komplexen Herausforderungen fragt Pilet: Ist es nicht an der Zeit, die Weisheit dieser Stimmen ernst zu nehmen und die Rolle des Westens in der Welt neu zu überdenken?
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