Der Westen steht mit seinem Versuch, Russland in der Ukraine zu schlagen und damit grundlegend zu schwächen vor einem Scheitern und einer Sinnkrise. Das werde «nicht durch unzureichende Ressourcen oder nachlassenden politischen Willen, sondern durch eine unklare Siegestheorie ausgelöst».
Das schreibt der Politikwissenschaftler Mark Episkopos vom Quincy Institute for Responsible Statecraft in Washington/DC in einem aktuellen Beitrag in dessen Online Magazin Responsible Statecraft. Darin setzt er sich mit den mutmaßlichen Zielen des US-geführten Westen bei der Unterstützung der Ukraine auseinander.
Es habe in der von den USA angeführten Koalition aus rund 50 Nationen «nie völlige Einigkeit» über die Ziele geherrscht, so der Politologe. Aber es sei klar gewesen, «dass das ursprüngliche Ziel darin bestand, die Ukraine durch eine Kombination aus militärischer Hilfe, Sanktionen und diplomatischem Druck in die Lage zu versetzen, das russische Militär entscheidend zu schwächen und potenziell zu besiegen«.
In der zweiten Hälfte des Jahres 2023 habe sich gezeigt, dass einige der Annahmen dabei nicht haltbar waren – «auch wenn viele Beobachter schon eine ganze Weile vorher die Alarmglocken läuteten». Dennoch sei dieser Ansatz auch nach drei Jahren noch das vorherrschende Paradigma für die Gestaltung des Krieges. Der Grund: Es gebe keine klar artikulierte Alternativstrategie.
Im Westen seien die entscheidenden Kräfte weiter überzeugt, dass die Ukraine mit der richtigen Waffenausstattung das Kräfteverhältnis zu ihren Gunsten verändern kann. Das habe mit Leopard-Panzern und Patriot-Raketensystemen angefangen, während jetzt die F-16-Kampfjets das Ziel erreichen sollen.
Doch laut Episkopos steht «die größere und wichtigere Frage, für welche Ziele diese Waffen eingesetzt werden sollten». Nach der gescheiterten ukrainischen Gegenoffensive 2023 werde Kiew vom Westen nun zu einer Verteidigungshaltung gedrängt. Das sei eine realitätsbedingte Abkehr von der vorherigen These, das ukrainische Militär verfüge über die notwendige Offensivkraft, um die russischen Streitkräfte vom eroberten Territorium zu vertreiben.
Dieser Ansatz gehe aber nicht weit genug, stellt der Politologe fest, angesichts der schweren militärischen, politischen, wirtschaftlichen und demografischen Faktoren, die auf und außerhalb des Schlachtfelds gegen die Ukraine wirken. Er verweist darauf, dass Personalausstattung und Feuerkraft die beiden «Währungen» seien, mit denen der Sieg in der Ukraine erkauft werden soll. Doch das ukrainische Militär sei mit einem gravierenden und wachsenden Defizit in beiden Bereichen konfrontiert.
«Das Land befindet sich in einer demografischen Abwärtsspirale, deren Behebung eine generationenübergreifende, gesamtgesellschaftliche Anstrengung erfordern wird, selbst wenn der Krieg heute beendet würde.»
Zudem sei jüngsten Umfragen zufolge «die eiserne Geschlossenheit der ukrainischen Bevölkerung hinter den Kriegszielen der Regierung fast verschwunden». Das habe zu neuem und unwillkommenem innenpolitischen Druck auf den Kiewer Präsidenten Wolodymyr Selenskyj geführt, der sich aber für immun dagegen halte. Eine Mehrheit der Ukrainer befürwortet jetzt die Aufnahme von Friedensgesprächen mit Russland, was Selenskyj «faktisch verboten» hatte.
Aus Sicht von Episkopos sind die vorgeschlagenen Defensivstrategien «sogar noch gefährlicher als frühere maximalistische Pläne» im Jahr 2022, den Krieg zu gewinnen, indem man den Russen durch blitzartige Offensivmanöver einen vernichtenden Schlag versetzt. Mit der neuen Verteidigungsstrategie solle Zeit für Kiew gewonnen werden, «die es wahrscheinlich nicht hat». Auch könnten seine westlichen Partner es nicht mit den notwendigen Ressourcen ausstatten.
«In Form und Funktion ist dies eine Übung im Pfeifen auf dem Friedhof.»
Der Krieg könne «nicht einfach auf Autopilot geschaltet werden», indem die Offensivoperationen verschoben und in die Verteidigung investiert würde. Es gebe nicht nur eine starke Asymmetrie der latenten Macht zwischen Russland und der Ukraine, sondern auch und vor allem «die Asymmetrie der vitalen Interessen und des Eskalationspotenzials zwischen Russland und den westlichen Partnern der Ukraine».
Episkopos schreibt zur Debatte, ob die für die Ukraine negativen Tendenzen verlangsamt werden können oder nicht:
«Verlangsamt zu welchem Zweck? Wenn die Absicht darin besteht, mehr Zeit zu gewinnen, wofür ist dann die Zeit? Geht es darum, eine weitere groß angelegte Gegenoffensive vorzubereiten, um Russland aus dem Krieg zu drängen; Russland in einem Zermürbungskrieg langsam zu besiegen; oder die Kosten für Russland so zu erhöhen, dass der Kreml in Verhandlungen zu einigermaßen günstigen Bedingungen für die Ukraine und den Westen einwilligt?»
Die ersten beiden Annahmen seien «kaum realistischer» als alle «leichtfertigen Annahmen» in Bezug auf die Gegenoffensive 2023. Die dritte Annahme bezüglich der Verhandlungspositionen sei angesichts der beschriebenen Trends «bestenfalls zweifelhaft».
Die jüngste Berichterstattung über den Krieg habe gezeigt, dass die Ukraine die Frontlinie nicht halten kann und Gefahr läuft, eine noch größere Niederlage hinnehmen zu müssen. Doch diese weit verbreitete Erkenntnis scheine immer noch hinter einer Mauer aus politischen und militärischen Annahmen verborgen zu sein, die seit der zweiten Hälfte des Jahres 2022 nicht mehr aktualisiert wurden, so der Politologe.
Es werde kein «realistischer Endzustand» formuliert, «der die ukrainische Souveränität bewahrt und die Interessen der USA voranbringt». Mehr Militärhilfe für die Ukraine und zusätzliche Sanktionen gegen Russland würden zu oft als Ziele an sich und nicht als Instrumente zur Gestaltung der Ergebnisse auf strategischer Ebene behandelt.
Episkopos schreibt, dass in den USA eine «Art von dezentralem Techno-Optimismus» vorherrsche, der eine einzigartige unternehmerische, lösungsorientierte Kultur ermögliche, die die USA zu einem weltweiten Innovationsführer gemacht habe.
«Doch dieser technokratische Geist, der in allen möglichen kommerziellen und wissenschaftlichen Unternehmungen ein großer Segen ist, kann in eher obskurantistischen Angelegenheiten der Staatskunst, Geopolitik und Militärstrategie zu einer großen Belastung werden.»
Während des Vietnam-Krieges habe der «forsch selbstbewusste» Verteidigungsminister Robert S. McNamara für diesen technokratischen Geist gestanden. Doch er habe den «Nebel des Krieges» in Vietnam nicht durchdringen können, weil er von strategisch unsicheren Annahmen über die allgemeine Dynamik des Konflikts ausgegangen sei und sich weigerte, den Kurs an entscheidenden Punkten zu korrigieren. Der US-Politologe warnt:
«Die Variablen, die in der Ukraine eine Rolle spielen, sind zweifellos ganz andere, aber die potenzielle Torheit – sich knietief in einen langwierigen Konflikt zu stürzen, ohne eine realistische Siegestheorie zu haben – ist dieselbe, und es steht ähnlich viel auf dem Spiel.»
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