Einst hatte China auf vielen Gebieten die Pionierrolle inne und galt richtungsweisend in Sachen Informatik und Wirtschaftswachstum. Die unsichere politische Lage, das verlangsamte Wirtschaftswachstum und bis zuletzt auch die unhaltbare Null-Covid-Politik liess das Land zunehmend in einem schlechten Licht erscheinen (wir berichteten hier und hier). Gegenüber Indien verblasste China in der letzten Zeit immer mehr. Darüber berichtet die Zeitschrift Foreign Affairs.
Im Mai veröffentlichte The Economist eine Titelgeschichte über Indien mit der Frage, ob nun die Weichen für Indiens Wirtschaft gestellt sind, um zu wachsen. Die Zeitschrift kam zu dem Schluss, dass dies wahrscheinlich zutreffe. Nach Informationen von Foreign Affairs erklärte der Stanford-Ökonom und Nobelpreisträger Michael Spence, dass «Indien derzeit herausragende Leistungen erbringt», und stellte fest, dass das Land «weiterhin das bevorzugte Investitionsziel ist». Und im November prognostizierte Chetan Ahya, der Chefökonom für Asien beim US-amerikanischen Investmentbanking- und Wertpapierhandelsunternehmen Morgan Stanley, dass die indische Wirtschaft in den nächsten zehn Jahren ein Fünftel des weltweiten Wachstums ausmachen wird.
«Zweifellos könnte Indien an der Schwelle zu einem historischen Boom stehen – wenn es dem Land gelingt, die privaten Investitionen zu steigern, unter anderem durch die Ansiedlung einer grossen Zahl globaler Unternehmen aus China. Aber wird Neu-Delhi in der Lage sein, diese Chance zu ergreifen? Die Antwort ist nicht eindeutig.»
Bereits im Jahr 2021 habe Foreign Affairs eine Prognose über Indiens Wirtschaft abgegeben. Damals sei das Ergebnis allerdings ernüchternd gewesen. Die Zeitschrift hat darauf hingewiesen, dass die weit verbreiteten Annahmen über eine boomende Wirtschaft unzutreffend seien.
Nach Informationen von Foreign Affairs war der wirtschaftliche Aufstieg des Landes nach der globalen Finanzkrise 2008 ins Stocken geraten und nach 2018 völlig zum Erliegen gekommen. Die Zeitschrift argumentierte damit, dass der Grund für diese Verlangsamung tief in Indiens wirtschaftlichen Rahmenbedingungen lag, genauer darin, dass Indien seinen Fokus auf Eigenständigkeit legt und Mängel in seinem politischen Entscheidungsprozess zeigte – die Zeitschrift nannte dies einen «Softwarefehler». Ein Jahr später sei das wirtschaftliche Umfeld Indiens trotz der überschwänglichen Presse weitgehend unverändert geblieben.
«Daher sind wir nach wie vor der Meinung, dass radikale politische Veränderungen notwendig sind, bevor Indien die inländischen Investitionen wieder ankurbeln kann, geschweige denn eine grosse Anzahl globaler Unternehmen davon überzeugen kann, ihre Produktion dorthin zu verlegen.»
Eine wichtige Lehre für die politischen Entscheidungsträger bestehe darin, dass es keine Zwangsläufigkeit, keine geradlinige Kausalkette zwischen dem Niedergang Chinas und dem Aufstieg Indiens gebe. In mancher Hinsicht erscheine Indien als ein gelobtes Land für globale Unternehmen. Es zeige strukturelle Vorteile, seine potenziellen Konkurrenten hätten gravierende Nachteile, die Regierung böte umfangreiche Investitionsanreize, schreibt Foreign Affairs.
Zu den strukturellen Vorteilen zähle, dass das Land neunmal so gross sei wie Deutschland. Indiens Bevölkerung wachse derzeit so stark, dass das Land Chinas Rang mit der weltweit grössten Bevölkerung einnehmen wird. Indien sei eines der wenigen Länder, das gross genug ist, um viele Grossindustrien zu beherbergen, die zunächst für die Weltmärkte und schliesslich für den aufstrebenden Inlandsmarkt produzieren. Ausserdem verfüge Indien über eine etablierte Demokratie mit einer langen Rechtstradition und einer bemerkenswert jungen, talentierten und englischsprachigen Arbeiterschaft.
Und Indien könne auch einige beachtliche Errungenschaften vorweisen: Seine physische Infrastruktur habe sich in den letzten Jahren dramatisch verbessert, während seine digitale Infrastruktur – insbesondere sein Zahlungsverkehrssystem – in gewisser Weise das der Vereinigten Staaten übertreffe.
Abgesehen von diesen Vorteilen gebe es aber auch Alternativen. Wenn internationale Unternehmen nicht nach Indien gingen, so Foreign Affairs, bleibe ihnen in Asien kaum eine Alternative. Vor einigen Jahren hätten andere südasiatische Länder als attraktive Kandidaten gegolten. Aber das habe sich inzwischen geändert. Im vergangenen Jahr habe Sri Lanka eine epochale soziale, politische und wirtschaftliche Krise erlebt. Pakistan sei von einer Umweltkatastrophe heimgesucht worden, die seine anhaltende makroökonomische Anfälligkeit und politische Instabilität noch verschlimmert habe.
Selbst Bangladesch, lange Zeit ein Entwicklungsliebling, sei nun gezwungen, beim Internationalen Währungsfonds Kredite aufzunehmen, nachdem Russlands Invasion in der Ukraine die Rohstoffpreise in die Höhe schnellen liess und die Devisenreserven des Landes erschöpfte. Inmitten dieser südasiatischen «Polykrise», wie sie der Wirtschaftshistoriker Adam Tooze genannt hat, zeichne sich Indien als Hort der Stabilität aus.
Noch bedeutsamer sei der Vergleich mit China, Indiens offensichtlichstem wirtschaftlichen Konkurrenten. Im vergangenen Jahr habe sich das Regime des chinesischen Präsidenten Xi Jinping zahlreichen Herausforderungen stellen müssen. Die Wirtschaft sei nur langsam gewachsen und die Bevölkerung drohe zu schrumpfen. Hinzu kam, dass die drakonischen Corona-Massnahmen der Kommunistischen Partei Chinas und die Angriffe auf den Privatsektor die Lage nur noch verschlimmert hätten.
In den letzten Wochen habe sich Peking einer zunehmend unruhigen Bevölkerung ausgesetzt gesehen, die unter anderem mit den grössten regierungsfeindlichen Protesten seit Jahrzehnten konfrontiert war. Laut Foreign Affairs haben die Hinwendung des Landes zum Autoritarismus im Inland und zur Aggression im Ausland sowie die ungeschickte Regierungsführung, dem
«chinesischen Modell» den Glanz genommen. Gleichzeitig habe diese dazu geführt, dass das demokratische Indien noch einladender erscheint.
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